„Bei der einstweiligen Verfügung sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt“
Er hat allein im letzten Jahr vier große Einigungsstellen zu Sozialplänen, zu Arbeitszeit und zu Gleitzeitabkommen betreut, und Anfang des Jahres 2010 zwei Interessenausgleichsverhandlungen sowie eine Einigungsstelle bezüglich Auszahlung von Boni und Verteilung von Prämien durchgeführt. Die Rede ist von Ulrich Tittel. Er war bis Ende 2009 Direktor des Arbeitsgerichts Wuppertal, hat im Laufe seiner Richter-Karriere Einigungsstellen von der Fluggesellschaft über Möbelhäuser bis hin zu karitativen Einrichtungen und selbst eine Einigungsstelle beim DGB abgewickelt. Dem SWP-Magazin gegenüber war Experte Tittel zu einem Gespräch zum Thema „Einstweilige Verfügung“ bereit.
Herr Tittel, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für das Gespräch genommen haben. Wie viele einstweilige Verfügungen sind denn im Jahr 2009 ungefähr beim Arbeitsgericht Wuppertal beantragt worden?
Die Zeit nehme ich mir gern. Eingegangen sind in Wuppertal 2009 79 einstweilige Verfügungen im Urteilsverfahren, 15 im Beschlussverfahren. Zum Vergleich: In Düsseldorf waren es 99 und 33. Im Verhältnis zu den Gesamteingängen liegen die einstweiligen Verfügungen bei etwa anderthalb Prozent. Düsseldorf hat da mehr Verfahren, das Gericht ist ja aber auch doppelt so groß.
Wie viele Verfahren wurden von Betriebsräten und wie viele von Arbeitnehmern angestrengt? Was sind die klassischen Gründe?
Die einstweiligen Verfügungen im Urteilsverfahren gehen zumeist auf das Konto der Arbeitnehmerseite. Am häufigsten geht es hier um vertragsgemäße Beschäftigung eines Arbeitnehmers, wenn dieser nach Ausspruch einer Kündigung sofort von der Arbeit freigestellt wird. Wenn der BR einer Kündigung gemäß § 102 Abs. 3 BetrVG begründet widersprochen hat, ist der Arbeitnehmer auf Verlangen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreites weiterzubeschäftigen. Allerdings kann der Arbeitgeber gemäß § 102 Abs. 5 BetrVG per einstweiliger Verfügung sich von dieser Verpflichtung entbinden lassen. Entsprechende Anträge sind recht häufig. Das Szenario erleben wir übrigens auch oft nach Beendigung der Elternzeit, meist weil eine Arbeitnehmerin Teilzeit arbeiten will. Urlaubsgewährung ist auch ein häufiger Grund, sei es, dass ein genehmigter Urlaub widerrufen wird oder ein rechtzeitig gestellter Urlaubsantrag nicht genehmigt wird. Herausgabe von Arbeitspapieren wäre auch zu nennen. Und natürlich geht es dann und wann um Geld, das nicht gezahlt wurde.
Kann man denn da mit einer Verfügung Aussicht auf Erfolg haben?
In der Regel nicht, allenfalls nur zum Teil. Mit einer so genannten Leistungsverfügung können Sie nie das volle Gehalt bekommen, es gibt dann nur den Notbedarf, der sich an der Sozialhilfe orientiert.
Kommt es denn so oft vor, dass Gehälter einbehalten werden?
Oh doch, das ist schon eine beliebte Schikane, angebliche Schadenersatzansprüche werden zur Begründung herangezogen. Natürlich kann der Grund auch Zahlungsunfähigkeit sein. Dann bringt eine einstweilige Verfügung nichts.
Was gilt es denn, allgemein zu beachten?
Etwa, dass Gerichte die Eilbedürftigkeit nicht immer anerkennen, auch wenn es um Urlaub geht – obwohl Fragen hier meist von jetzt auf gleich kommen. Die Zweifel rühren immer daher, dass ja die Eilbedürftigkeit nicht per Schlamperei hergestellt werden darf, also die Dringlichkeit nicht selbst verschuldet worden ist.
Die Herausgabe von Arbeitspapieren klappt hingegen fast immer gut. Wichtig ist aber, dass zuvor der Versuch unternommen wurde, die Papiere persönlich abzuholen. Hier besteht eine Holschuld, keine Bringschuld. Der vergebliche Versuch muss in der Antragsschrift drin stehen. Es ist ein klassischer Fehler, wenn dieser Vortrag fehlt. Derartige einstweilige Verfügungen – Urlaub, Arbeitspapiere – werden oft vom Richter durch Telefonate mit beiden Seiten einvernehmlich erledigt und bedürfen dann keiner Entscheidung. Schwieriger sind einstweilige Verfügungen der Arbeitgeberseite. Bei diesen geht es um Vertragsverletzungen durch den Arbeitnehmer, zum Beispiel Arbeitsaufnahme bei einem Wettbewerber noch vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses, also vor Ablauf der Kündigungsfrist.
Was ist bei Betriebsräten das häufigste Ziel einer einstweiligen Verfügung?
Oh, ganz klar die Unterlassung von Verstößen gegen das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates, die Einhaltung einer Betriebsvereinbarung, Genehmigung von Seminaren oder Erteilung von Informationen. Bei Verletzung von Mitbestimmungsrechten sind das Szenarien wie etwa, dass Überstunden angeordnet wurden, ohne dass der Betriebsrat dazu gehört wurde, oder die Installation von Videokameras – die Einführung technischer Einrichtungen zur Überwachung des Verhaltens oder der Leistung der Arbeitnehmer ist ein typisches Reizthema, bei dem die Wellen hochschlagen.
Versetzungen, zu denen der Betriebsrat nicht angehört wurde, sind auch so ein Thema. Bei Massenentlassungen haben Betriebsräte in der Vergangenheit versucht, per einstweiliger Verfügung den Ausspruch von Kündigungen untersagen zu lassen, bevor Interessenausgleichsverhandlungen abgeschlossen sind. Im LAG-Bezirk Düsseldorf sind derartige Anträge immer unter Hinweis auf den in § 113 Abs. 3 BetrVG geregelten Nachteilsausgleich zurückgewiesen worden. Ob in anderen LAG-Bezirken noch anders entschieden wird, weiß ich nicht.
Welche ungefähre Erfolgsquote haben denn einstweilige Verfügungen?
Das ist so gut wie nicht festzustellen, eine Statistik gibt es insoweit nicht. Auch kommt es oft zu Vergleichen, ob dann ein Erfolg erzielt worden ist, lässt sich nur schwer feststellen. Aber ein Verfahren, das dazu führt, dass die Betriebsparteien sich durch Vergleich verpflichten, eine Betriebsvereinbarung abzuschließen oder die Einigungsstelle anzurufen. Das kann sogar für beide Seiten ein Erfolg sein.
An welchen Punkten scheitern einstweilige Verfügungen häufig? Ist eher der Verfügungsanspruch das Problem, oder eher der Verfügungsgrund? Oder führen prozessuale Fragen wie fehlende Glaubhaftmachung in die Bredouille?
Oft scheitert es an der Eilbedürftigkeit, etwa in großen Unternehmen. Zum Beispiel, wenn der Wirtschaftsausschuss eines großen Unternehmens eine Verfügung auf Einsicht in Unterlagen erwirken will. Der Anspruch ist meist da, aber ist auch die Dringlichkeit gegeben? Ein anderes Beispiel: Bei einer Kündigung – ist es da eilbedürftig, ob jemand während seiner Freistellung noch seinen Dienstwagen hat? Das ist ein Luxusproblem, und im Fall des rechtswidrigen Entzuges gibt es später Schadensersatz. Das gleiche gilt für den Entzug des Dienstzimmers.
Hier geht es also eher um psychologische Kriegsführung?
Allerdings, hier gilt der Spruch ,Ist das Arbeitsverhältnis erst ruiniert, klagt es sich gar ungeniert’. So werden einstweilige Verfügungen zum Mittel dafür, sich das Leben gegenseitig schwer zu machen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt! Bei BR-Wahlen kommt es auch öfter zu einstweiligen Verfügungen, aber da sind die ja dann auch eilbedürftig. Generell, um auf Ihre andere Frage zurückzukommen, kann man sagen, dass es oft an der Eilbedürftigkeit scheitert, oder aber am Verfügungsgrund. Wenn das nicht richtig läuft, wäre das ein Fehler des Anwalts. Die Glaubhaftmachung kann nachgeholt werden. Bis zur mündlichen Verhandlung ist das im Beschlussverfahren in der Regel möglich.
Abschließend – in welchen Fällen halten Sie eine einstweilige Verfügung für Betriebsräte für praktisch sinnvoll und in welchen Fällen weniger?
Unterlassungsverfügungen zum Mitbestimmungsrecht sind für BR grundsätzlich lohnend, das führt in der Regel auch dazu, dass ein schneller Verhandlungstermin angesetzt werden. Aber bei einstweiligen Verfügungen in Beschlussverfahren gilt, dass immer die Kammer zu entscheiden hat. Auch bei Eilbedürftigkeit kann der Vorsitzende nicht allein entscheiden.
Der Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung kann auch ein Mittel sein, einen Vergleich anzustreben, gesetzt den Fall, der Anwalt des BR agiert taktisch klug. Man muss aber daran denken, dass die einstweilige Verfügung nicht immer weiterhilft. Kommt es zu einem für den Betriebsrat positiven Beschluss, ist dieser nicht sofort vollstreckbar, die Rechtskraft ist abzuwarten. Der Arbeitgeber kann Beschwerde einlegen. Das Verfahren zieht sich dann in die Länge. Das führt daher zu Einigungsversuchen und kann damit indirekt ein großer Vorteil sein.
Weniger sinnvoll ist eine einstweilige Verfügung, wenn es um eine Seminar- Teilnahme geht. Bis das durch ist, ist der Termin meist verstrichen, da kann man lieber abwarten bis zur nächsten turnusmäßigen Runde. Sinnvoll ist eine einstweilige Verfügung eigentlich immer bei Mitbestimmungsrechten, die verletzt werden.
In meinem letzten Jahr gab es in einem Unternehmen einmal fünf einstweilige Verfügungen, da ist der Chef Amok gelaufen. Die Anträge des Betriebsrates waren alle erfolgreich. Es ging um das Aussperren des BR-Vorsitzenden, um Videoüberwachung, um alles Mögliche. Die Videoüberwachung, die nur das Außengelände überwachen sollte, aber de facto in den ganzen Betrieb blicken konnte, musste demontiert werden.
Das funktioniert also. Die einstweilige Verfügung kann die Nadel sein, mit der man sich piekst, um sich zu ärgern, sie kann aber auch der große Schild sein, hinter dem sich Arbeitnehmer-Interessen formieren.
Zur Person:
Ulrich Tittel studierte in Berlin und Köln, machte 1972 sein erstes Examen. Nach einer kurzen Zeit in einer Anwaltskanzlei holte ihn ein ehemaliger Kollege zur Arbeitsgerichtsbarkeit. Seine Laufbahn begann 1975 in Wuppertal, er kam dann nach Essen, danach nach Düsseldorf, wo er bis 1990 tätig war. Danach war er in der Stadt Brandenburg für den Aufbau des Arbeitsgerichts zuständig. „Ich habe noch eine DDR-Ernennungsurkunde,“ schmunzelt Tittel. Während seiner Zeit in der ehemaligen DDR ging es meist um Kündigungen in Folge von Betriebsübernahmen verbunden mit erheblichem Personalabbau, Sozialplänen und Interessenausgleichsverhandlungen.
„Der Aufbau eines Arbeitsgerichts war für mich als Richter eine große Erfahrung. Da merkt man, was bei Gericht alles wesentlich ist und hinter dem Richter steht, was alles im Hintergrund stattfindet.“ Eine wesentliche Erfahrung war auch die Abwicklung eines großen Stahlwerks in Brandenburg: „Da ging alles von 10.000 Mann auf Null. Anfänglich wurden die Arbeitnehmer auf Kurzarbeit Null gesetzt. Später kamen dann Kündigungsschutzklagen, an manchen Tagen bis zu 750, da hatten wir 250 Kläger in den Güteverhandlungen pro Tag.“
Die Lösung sei eine Arbeitsweise mit viel Systematik gewesen, indem man ähnliche Fälle gruppierte und mit mehr Protokollanten als sonst arbeitete. Die Streitigkeiten endeten mit Vergleich. Die Abfindungen betrugen, soweit sich Tittel erinnert, maximal drei Monatseinkommen und wurden von der Treuhand gezahlt. 1992 kehrte Tittel zurück nach NRW, wo er bis 2009 Direktor des Arbeitsgerichts Wuppertal war. Seine Hobbys sind gute Weine, Segeln, Reisen und Kunst. Der 64-Jährige ist Vater zweier erwachsener Kinder.
Herr Tittel, vielen Dank für das Interview.
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