Das Gezerre um die Tarifeinheit
1. Worum geht es bei der Tarifeinheit rechtlich?
Der Grundsatz der Tarifeinheit ist nicht gesetzlich geregelt, sondern war in Deutschland bis Anfang 2010 aufgrund einer jahrzehntelangen ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts geltendes Recht.
Die Anwendung dieses Grundsatzes führte dazu, dass in einem Arbeitsverhältnis oder in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag anzuwenden ist. Er kann immer dann zur Anwendung kommen, wenn mehrere Tarifverträge auf denselben Sachverhalt anwendbar sind (sog. Tarifpluralität). Die Arbeitsgerichte bestimmten in Anwendung dieses Grundsatzes den anzuwendenden Tarifvertrag, wenn mehrere Tarifverträge dieselbe Tätigkeit regelten. Die Tarifeinheit hat es kleineren Gewerkschaften praktisch unmöglich gemacht, eigene Tarifverträge in Betrieben zu erzwingen, in denen bereits ein Tarifvertrag einer größeren Gewerkschaft galt.
Mitte 2010 änderte das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsauffassung und kippte damit den Grundsatz der Tarifeinheit für den Fall der Tarifpluralität. Das BAG hat dies wie folgt begründet:
„Die Rechtsnormen eines Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten gem. § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG in den jeweiligen von seinem Geltungsbereich erfassten Arbeitsverhältnissen eines Betriebes unmittelbar und zwingend. Diese durch das Tarifvertragsgesetz vorgesehene, auf das einzelne Arbeitsverhältnis bezogene Bindung werden nicht dadurch verdrängt, dass für den Betrieb mehr als ein Tarifvertrag für Arbeitsverhältnisse derselben Art gilt, für die jeweiligen Arbeitsverhältnisse im Falle einer Tarifgebundenheit eines oder mehrerer Arbeitnehmer allerdings jeweils nur ein Tarifvertrag. Eine solche Tarifpluralität kann nicht nach dem Grundsatz der Tarifeinheit dahingehend aufgelöst werden, dass hinsichtlich dieser Normen nur ein Tarifvertrag „für den Betrieb“ gilt. Ein solcher Rechtsgrundsatz besteht nicht. Eine Verdrängung der nach § 4 Abs. 1 TVG in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen geltenden tariflichen Normen ist weder aufgrund praktischer Schwierigkeiten noch wegen einer sonst erforderlichen Abgrenzung von Inhalts- und Betriebsnormen geboten. Die Voraussetzungen einer Rechtsfortbildung, die zur Verdrängung tariflicher Normen führt, sind vorliegend nicht gegeben. Die Verdrängung eines Tarifvertrages ist auch mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren.“
Seit dem besteht rechtlich die Möglichkeit, dass in einem Betrieb mehrere Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften anzuwenden sind.
2. Die Probleme in der betrieblichen Praxis
Seit Mitte 2010 der Grundsatz der Tarifeinheit vom BAG aufgegeben wurde, hat die Macht von Fachgewerkschaften bzw. Spartengewerkschaften sprunghaft zugenommen. Dabei handelt es sich um eine Gewerkschaft, die sich ausschließlich für eine bestimmte Berufsgruppe zuständig fühlt. Damit stehen sie im direkten Gegensatz zu den großen Gewerkschaften, die alle Berufsgruppen einer bestimmten Branche abdeckt. Beispiele für solche Spartengewerkschaften sind
- der Marburger Bund für Ärzte
- die Vereinigung Cockpit für Piloten
- und die GDL für Lokomotivführer
Wenn dann die Spartengewerkschaft noch eine für einen Betrieb besonders wichtige Arbeitnehmergruppe vertritt, dann kann ein Streik dieser verschwindend kleinen Arbeitnehmergruppe einen riesigen Konzern lahmlegen, wie z. B. aktuell der Streik der Lufthansapiloten zum Ausfall aller bestreikten Flüge führt, obwohl die Piloten nur ca. 4 % der gesamten Beschäftigten der Lufthansa ausmachen und nur Forderungen für diese 4 % der gesamten Belegschaft fordern. Würden z. B. bei der Lufthansa nicht die Piloten, sondern alle anderen 96 % der Mitarbeiter streiken, wäre die Auswirkung des Streikes auf die Funktionsfähigkeit der Lufthansa Betriebe nicht wesentlich größer.
3. Wie versucht die Politik, das Problem zu lösen?
a) Die Position der Bundesregierung
Im Koalitionsvertrag hat die große Koalition auf Seite 70 die Absicht aufgenommen, den Grundsatz der Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gesetzlich festzuschreiben, um den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken. Durch flankierende Verfahrensregelungen soll verfassungsrechtlich gebotenen Belangen Rechnung getragen werden.
Zu den aktuellen Streiks der o. g. Spartengewerkschaften hat die Bundesministerin für Arbeit und Soziales Nahles geäußert, dass hier das Prinzip vorzuherrschen scheine, dass wenige nur auf sich schauen. Dabei müssten beim Arbeitskampf eigentlich alle solidarisch miteinander sein. Dass einige Spartengewerkschaften für ihre Partikularinteressen vitale Funktionen des gesamten Landes lahmlegen, sei nicht in Ordnung. Dies untergrabe den Zusammenhalt im Lande und lege die Axt an die Wurzeln der Tarifautonomie. Es müsse wieder das Prinzip der Tarifeinheit gelten, dazu werde sie in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen.
b) Erste Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit
Im Juni 2014 hat Bundesministerin für Arbeit und Soziales Nahles die nachfolgenden sechs Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit vorgestellt:
Um die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems sicherzustellen, wird eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit vorgesehen, durch die Tarifpluralitäten aufgelöst werden.
Eine Auflösung ist nicht erforderlich, wenn die Gewerkschaften ihre jeweiligen Zuständigkeiten abgestimmt haben und die Tarifverträge jeweils für verschiedene Arbeitnehmergruppen gelten (sog. gewillkürte Tarifpluralität).
Eine Auflösung ist ebenfalls nicht erforderlich, wenn die Gewerkschaften inhaltsgleiche Tarifverträge abgeschlossen haben (sog. Anschlusstarifverträge).
Zur Auflösung wird auf das Mehrheitsprinzip im Betrieb abgestellt: Die definitorische Ausgestaltung erfolgt in der weiteren Gesetzesausarbeitung. Soweit sich im Betrieb Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften überschneiden, kommt nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft zur Anwendung, die im Betrieb mehr Mitglieder hat (Mehrheitsgewerkschaft). Dies schließt insoweit auch eine Erstreckung der Friedenspflicht aus dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft auf die Minderheitsgewerkschaft ein.
Für zu einem Stichtag bereits geltende Tarifverträge wird eine Übergangsregelung vorgesehen.
Um verfassungsrechtlichen Belangen Rechnung zu tragen, soll die Regelung der Tarifeinheit unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch flankierende Verfahrensregelungen abgesichert werden.
Die Umsetzung der Eckpunkte des Bundesarbeitsministeriums in eine gesetzliche Regelung zur Tarifeinheit hätte für die Geltung von Tarifverträgen unterschiedlicher Gewerkschaften in den Betrieben insbesondere zwei wesentliche Konsequenzen:
Zukünftig gilt grundsätzlich nur noch ein Tarifvertrag im Betrieb und zwar der Tarifvertrag, dessen Gewerkschaft die meisten Mitglieder im Betrieb aufweist.
Eine im Betrieb vertretene Minderheitsgewerkschaft darf nicht zum Streik aufrufen bzw. streiken, solange eine für die Mehrheitsgewerkschaft geltende Friedenspflicht besteht.
Dies hätte weitreichende Konsequenzen für die o. g. Spartengewerkschaften. Diese könnten als Minderheitsgewerkschaften z. B. in den Betrieben der Deutschen Bahn sowie der Lufthansa zur Durchsetzung von höheren Löhnen und Gehältern nicht mehr streiken.
c) Die Kritik von Verfassungsrechtlern
Der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio hält die Pläne in der gegenwärtigen Form für verfassungswidrig.
Nach seiner Meinung gibt es für einen solchen Eingriff in das Recht der Koalitionsfreiheit keine erkennbare Rechtfertigung. Di Fabio beruft sich auf Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes, wonach für jedermann und für alle Berufe das Recht gewährleistet ist, „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“. Der Ausschluss einer eigenständigen Berufsgewerkschaft aus der Tarifautonomie sei nur bei „nachweisbaren schweren und konkreten Gefahren für überragend wichtige Gemeinschaftsgüter gerechtfertigt“. Im aktuellen Fall sei dies nicht gegeben. Die sich abzeichnende Umsetzung des Koalitionsvertrags führe „zu einem verfassungswidrigen, weil ungerechtfertigten Eingriff in die Koalitionsfreiheit“.
d) Der aktuelle Stand
Angeblichen soll das Bundesarbeitsministerium den Gesetzentwurf zur Tarifeinheit unter Berücksichtigung dieser verfassungsrechtlichen Bedenken entschärfen. Angeblich soll im Text eines Gesetzesentwurfs nicht mehr ausdrücklich erwähnt werden, dass als Folge der Tarifeinheit die Friedenspflicht des Mehrheitstarifvertrages auf die Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft erstreckt wird.
In dem Gesetzentwurf soll zwar festgeschrieben werden, dass künftig der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern in einem Unternehmen maßgeblich sein soll. Was dies für das Streikrecht von Gewerkschaften bedeutet, will die Bundesregierung aber nun angeblich doch nicht mehr vorschreiben. Über die genaue Auslegung müssten dann die Gerichte entscheiden. Damit würde dann unter Umständen ein Streikrecht für Spartengewerkschaften auch in Zeiten einer Friedenspflicht gegenüber der Mehrheitsgewerkschaft bestehen bleiben. Der Streik könnte dann aber nicht zur Durchsetzung eines eigenen Tarifvertrages in dem Betrieb führen.
Offenbar möchte die Bundesregierung ihr weiteres Vorgehen nun aber davon abhängig machen, ob die Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände das Vorhaben unterstützen.
Die Bundesregierung hat nunmehr einen Gesetzesentwurf zur Tarifeinheit für den Herbst 2014 angekündigt. Sobald dieser vorliegt, werden wir hierüber sowie über die Reaktionen der unterschiedlichen Interessengruppen berichten.