Arbeitgeber sind zur elektronischen Arbeitszeiterfassung verpflichtet!Paukenschlag des BAG
Damit hat niemand gerechnet: Das BAG hat in seinem Beschluss vom 13.09.2022, Aktenzeichen 1 ABR 22/21, entschieden, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, die Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer vollständig elektronisch zu erfassen.
Welcher Sachverhalt lag der Entscheidung zu Grunde?
Der in dem Verfahren antragstellende Betriebsrat und die Arbeitgeberin hatten im Jahr 2018 über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung verhandelt. Eine Einigung hierüber kam nicht zustande. Auf Antrag des Betriebsrats setzte das Arbeitsgericht dann eine Einigungsstelle zu diesem Thema ein. Die Arbeitgeberin hatte deren Zuständigkeit gerügt, weil das BAG in seiner bisherigen, noch aus dem Jahr 1989 stammenden Rechtsprechung (siehe Beschluss vom 28.11.1989, Aktenzeichen 1 ABR 97/88) ein solches Initiativrecht für Betriebsräte gem. § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG verneint hatte. Daraufhin hat der Betriebsrat in dem Beschlussverfahren die Feststellung begehrt, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zusteht.
Das ArbG Minden hat erstinstanzlich auf die „alte“ BAG-Rechtsprechung zurückgegriffen und den Antrag des Betriebsrates abgewiesen. Das im Beschwerdeverfahren angerufene LAG Hamm hatte genau gegenteilig entschieden und ein Initiativrecht des Betriebsrates bejaht. Diese Entscheidung hat die Arbeitgeberin wiederum beim BAG angegriffen.
Was hat nun das BAG genau entschieden?
Das BAG hat die Entscheidung des LAG Hamm im Ergebnis aufgehoben, aber aus anderen Gründen und mit einem völlig anderen Ergebnis, als dies die Arbeitgeberin erwartet hatte.
Im Einzelnen:
Betriebsräte haben nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Eine solche gesetzliche Verpflichtung hat das BAG jedoch – wohl zur Überraschung aller Verfahrensbeteiligter – im Hinblick auf § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG (siehe angehängten Textauszug) bejaht. Denn bei unionsrechtskonformer Auslegung dieser Vorschrift ist – so das BAG – jeder Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließt ein – ggfs. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus. Daher war der Betriebsrat in dem Verfahren unterlegen.
Wie ist die Entscheidung des BAG einzuordnen?
Soweit, so gut – der Betriebsrat hat in dem Verfahren zwar verloren, aber im Ergebnis dennoch gewonnen. Denn der BAG-Beschluss erweist sich nun für die Arbeitgeberin in der Praxis als „Pyrrhus-Sieg“.
Betriebsräte haben weiterhin kein Initiativrecht bei der Frage, „ob“ eine Arbeitgeberin ein elektronisches Zeiterfassungssystem einführen muss. Eines solches Rechtes bedarf es aber auch gar nicht, weil das BAG ja nun eine gesetzliche Verpflichtung hierfür bejaht hat. Dies bedeutet in der Praxis, dass wohl jede Arbeitgeberin, also auch solche in nicht mitbestimmten Betrieben, zur Einführung elektronischer Systeme verpflichtet sind.
Die Entscheidung ist absolut zu begrüßen. Denn sowohl die „alte“, als auch die „neue“ Bundesregierung haben bislang keine erkennbaren Anstrengungen unternommen, die seit der Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019, Aktenzeichen C 55/18, bestehende Verpflichtung, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines objektiven und verlässlichen Systems zur Arbeitszeiterfassung zu Gunsten der Arbeitnehmer gesetzlich zu regeln.
Was bedeutet die Entscheidung für die Betriebsratsarbeit in der Praxis?
Das BAG stützt seine Entscheidung in erster Linie auf die Generalklausel des § 3 ArbSchG. Daraus folgt, dass Betriebsräten hierdurch ein weiterer Mitbestimmungsbereich eröffnet wird. Dieser betrifft das „Wie“, d.h. die jeweilige konkrete Ausgestaltung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung. Denn § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG sieht u.a. bei der Festlegung der konkreten Parameter der „erforderlichen Maßnahmen“ ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte. Das wiederum heißt, dass alle Fragen, wie z.B. welche Art von System zur Zeiterfassung eingeführt und eingesetzt werden soll, vom Betriebsrat mitentschieden werden.
Selbstverständlich wird die Entscheidung auch Auswirkungen auf die Vielzahl von Vertrauensarbeitszeitregelungen haben. Wir gehen ferner davon aus, dass die Entscheidung Arbeitnehmern in der sich anschließenden Folgerechtsprechung helfen wird, Vergütungsansprüche aus arbeitgeberseitig nicht erfassten, aber geleisteten Überstunden durchzusetzen.
Die Entscheidung wird in arbeitgebernahen Kreisen bereits heftig kritisiert. Der Begriff der „Rückkehr zur Stechuhr“ macht insbesondere in der arbeitgebernahen Presse die Runde. Ironischerweise übersieht diese – nach unserer Meinung voreilige und auch unberechtigte – Kritik, dass das BAG mit seinem Beschluss gar nicht auf die (Wieder-)Einführung von Stechuhren abzielt. Denn bei solchen handelt es sich ja nicht um elektronische, sondern um mechanische Zeiterfassungssysteme. Solche lässt das BAG nicht mehr ausreichen.
Es wird gleichwohl abzuwarten sein, ob Arbeitgeber im Ergebnis wirklich ohne Ausnahme zur Einführung entsprechender Systeme verpflichten werden. Die Entscheidung existiert bislang nur als Pressemitteilung. Möglicherweise werden die Entscheidungsgründe hierzu Einschränkungen enthalten. Wir werden berichten, sobald die vollständig begründete Entscheidung vorliegt.
§ 3 ArbSchG lautet auszugsweise:
Grundpflichten des Arbeitgebers
(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. (…)
(2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten
für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen (…)